Adler (Johann Wilhelm Ludwig Gleim)
Adler. Es iſt mir lieb, daß du ſo weit von uns wohnſt und zwar auf großen Bergen , welche aus vielen rauhen Steinen beſtehen, die man Feſen nennt. Du biſt wohl ſo weit fort, denn man erzählt, daſs du gegen die kleinen, jungen Adler gar ſo grob und böſe ſeieſt, und ſie aus dem Neſte werfeſt, wenn du zornig biſt, und ſogar oft auch wenn die Kleinen krank ſind. Du Böſer, mit deinem gebogenen Schnabel und den ſcharfen Klauen. Die andern Vögel, die Haſen, Hirſch- und Rehkälber, Lämmer, die jungen Ziegen, wilden Gänſe, Feld- und Waldmäuſe fürchten dich ſehr und heißen dich gar einen Räuber — In Irrland raubte einmal ein Adler ein vierjähriges Kind, das vor einem Hauſe ſpielte, und trug es ſeinen Jungen in ſein Neſt. Der Vater eilte nach, aber bis er das Felſenneſt erſtieg, hatten die Adler dem Kinde ſchon die Augen ausgehackt, und es ſo zugerichtet, daß es in wenigen Stunden darauf ſtarb. — Doch auch manchen ſchönen Zug, kennt man vom Adler; ſo gefällt mir namentlich der in folgendem Gedicht:
Ein Adler traf auf ſeiner Bahn
Zur Sonn’ einſt eine Lerche an,
Und hörte ſie
Die ſchönſte Melodie
Dem ſtillen Himmel ſingen.
Die ausgebreiteten und eilgewohnten Schwingen
Verweilten ſich; langſamer ward der Flug
Und ſtill die Luft, die ihren König trug.
„Sitz’ auf!“ ſpricht er zur Lerch’, „ich werde
Dich in den Himmel tragen,
Mein Fittig ſei dein Wagen.“
„Nein,“ ſagte ſie, „ich ſinge
Dem Schöpfer aller Dinge,
Hienieben an der Erde.
Nach einer höhern Sphäre
Flieg’ du, zu ſeiner Ehre!“ —
Adler, Lärche, Schöpfer, Erde, Himmel, Kinderlexikon